Ohne etwas über das Schicksal von Irene Nemirovsky zu wissen, lässt sich dieses Romanfragment, das zwischen 1941 und 1942 entstanden ist und bei seinem Erscheinen im letzten Jahr in Frankreich zur "Sensation" wurde, gar nicht begreifen, betont Ina Hartwig. Feierte die Autorin, deren Familie vor der Russischen Revolution aus Kiew floh, zunächst in Frankreich literarische Erfolge, wurde sie seit Oktober 1940 als Jüdin mit einem Veröffentlichungsverbot belegt, 1942 verhaftet und wenig später in Auschwitz ermordet, berichtet die Rezensentin. In ihrem Roman deckt Nemirovsky mit "brutalem Spürsinn"die "egozentrischen, feigen, deprimierenden" und dabei manchmal "unfreiwillig komischen" Seiten Frankreichs während der Zeit der deutschen Besatzung auf. Dabei nehme sie bei keiner Bevölkerungsgruppe ein Blatt vor den Mund und räume mit dem Resistance-Mythos auf, wonach die allermeisten Franzosen sich gegen die Kollaboration gewehrt hätten. Sowohl die Bourgeoisie als auch die Aristokratie und die Künstler und Intellektuellen werden wegen ihres Egoismus' und Geizes und ihres Snobismus "so genüsslich wie gnadenlos" vorgeführt, stellt die Rezensentin fest. Das Werk ist wie eine Sinfonie auf fünf Teile angelegt, allerdings sind nur zwei Kapitel zu Ende geführt worden, die "weitgehend unverbunden nebeneinander stehen", erklärt Hartwig. Das erste Kapitel berichtet von der Besetzung von Paris und der Flucht der Stadtbevölkerung, die anhand von einigen wenigen Figuren geschildert wird, das zweite Kapitel erzählt vom Leben in einem besetzten Dorf, in dem sich eine junge französische Frau in einen Wehrmachtsoffizier verliebt. Hartwig findet es "beeindruckend", wie Nemirovsky den "Spagat aus Süffisanz und Charakterkunde, aus Provokation und Einfühlung" meistert. "Schockierend" findet sie dagegen, wie konsequent die Autorin ihre eigene Lebenssituation und die Gefahr, in der sie sich während der Niederschrift befand, ausspart. Insgesamt preist sie das Buch selbst in unvollendetem Zustand als "großartiges, bewegendes und überaus kluges" Werk, das auch eine "Herausforderung für die deutsch-französischen Beziehungen" heute darstelle.